Einheit des Seins

Bevor wir heute Abend mit der stillen Meditation beginnen, möchte ich ein paar Worte zum Thema der Einheit des Seins sagen.

Über diese Thematik denke ich seit meiner Jugend nach – die Einheit des Seins oder das Einssein des Seienden. Ich glaube, mein Vater hat vor einiger Zeit eine Rede gehalten, in der er dieses Konzept anhand einiger Gleichnisse veranschaulicht hat, zum Beispiel mit der Analogie von Blase, Tropfen, Welle und Ozean, wo es nur eine Realität gibt: nämlich Wasser – das aber in vielen Formen erscheint. In dieser Rede sagte er zwei Dinge: Erstens, dass es sich nicht um einen philosophischen Standpunkt handelt, den man mit Argumenten begründen kann, und zweitens, dass es sich um eine erfahrbare Wahrheit handelt; die Einheit des Seins muss man erleben.

Das Prinzip der Einheit des Seins bedeutet, dass es nur ein einziges Wesen gibt und dass alles eine Manifestation dieses einen Wesens ist. Die gesamte Existenz geht aus einer einzigen Einheit hervor.

Historisch gesehen wurde die Lehre von der Einheit des Seins erstmals 400 v. Chr. vom griechischen Philosophen Parmenides vorgestellt. Er spricht über die Einheit der Existenz:

„Was existiert, ist ungeschaffen und unvergänglich, denn es ist ganz und unveränderlich und vollständig.“

Plotin, ein weiterer griechischer Philosoph, der 270 n. Chr. starb, spielt später auf dasselbe an:

„Könnte der Mensch nur umgedreht werden, würde er sofort Gott und sich selbst und das All sehen. Es ist aufgrund der Einheit, dass Wesen als Wesen existent sind.“

Und natürlich spricht auch der große islamische Philosoph Ibn Arabi über die Einheit des Seins:

„Wenn du an der Vielfalt festhältst, bist du mit der Welt, und wenn du an der Einheit festhältst, bist du mit der Wahrheit.“

„Wenn die geheimnisvolle Einheit zwischen der Seele und dem Göttlichen klar wird, wirst du erkennen, dass du nichts anderes als Gott bist.“

In der Sufi-Literatur ist die Einheit des Seins also ein Schlüsselkonzept und von großer Bedeutung.

Ich habe mir immer zwei Fragen zum Einssein gestellt –angenommen, es ist Erfahrungssache –woher weiß man dann, dass die Einheit des Seins wahr ist? Und: Wie erlebt man die Einheit des Seins? Beide Antworten, die ich auf diese beiden Fragen gebe, gründen sich auf Liebe.

Woher wissen wir also, dass die Einheit des Seins wahr ist? Ich kam zu dem Schluss, dass wir Menschen die Fähigkeit haben, fast alles zu lieben – von Tieren bis hin zu leblosen Gegenständen. Und die Tatsache, dass wir in der Lage sind, alles zu lieben, deutet darauf hin, dass es Gemeinsamkeiten zwischen uns und dem Rest der Existenz gibt. Denn Ähnlichkeit und Gleichheit sind in der Regel die Grundlage für Liebe. Wir fühlen uns beispielsweise zu Menschen hingezogen, die uns sehr ähnlich sind. In gewisser Weise gibt es eine Ähnlichkeit zwischen uns und allem Existierenden im Universum. Und diese Gemeinsamkeit oder dieses Zeichen der Einheit oder die Manifestation der Einheit, die das gesamte Dasein durchdringt, ermöglicht es uns, alles zu lieben.

Auf dieser Grundlage wissen wir, dass die Einheit des Seins wahr ist. Ich sage in Bezug auf diese Fähigkeit zu lieben, dass wir, selbst wenn ein Außerirdischer aus dem Weltraum auf diesen Planeten käme, immer noch die Fähigkeit hätten, diesen Außerirdischen zu lieben, weil er wiederum eine Manifestation des Einen ist. Das ist also die Antwort auf die Frage, woher man weiß, dass die Einheit wahr ist: Denn wenn es sozusagen zwei verschiedene Bewusstseine gäbe, wäre die Grundlage dieser Schöpfung oder der Dinge, die in diesem Universum existieren, völlig anders. Wir müssten uns eine Situation vorstellen, in der es bestimmte Dinge in diesem Universum gibt, die wir grundsätzlich nicht lieben können. Und für mich ist das nicht möglich. Für manche Menschen ist das vielleicht möglich...

Die zweite Frage lautet: Wie erlebt man die Einheit des Seins? Auch hier geht es wieder um die Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten zwischen uns und dem Rest der Existenz und um unsere Fähigkeit zu lieben. Wir sind nicht nur in der Lage, unsere Verwandten und alle, die genetisch mit uns verwandt sind, zu lieben, sondern wir können den Umfang unserer Liebe auch auf Tiere und Dinge ausweiten, die weiter von unserer genetischen Veranlagung entfernt sind. Und je mehr wir den Umfang unserer Liebe erweitern, desto mehrerleben wir die Einheit in der Existenz.

Der Sufismus basiert auf Liebe, und auch die Erfahrung der Einheit des Seins basiert auf Liebe. Du erlebst die Einheit des Seins, sobald du den Umfang deiner Liebe auf alles ausdehnst. Es gibt jedoch auch einen direkteren Weg, die Einheit des Seins zu erfahren, nämlich die Erfahrung der Einheit zwischen dem Liebenden und dem Geliebten. Das kann die tiefe Liebezwischen zwei Menschen sein oder zwischen dem spirituellen Reisenden und seinem spirituellen Wegweiser. Rumi beschreibt in einem seiner Gedichte über seinen Meister Shams Tabrizi seine Erfahrung der Einheit durch die Liebe zu Shams:

Was für ein schöner Moment wäre es, wenn du und ich zusammenauf der Veranda sitzen würden.

Wir wären zwei getrennte Bilder und Gesichter, aber eins imGeiste.

Durch reine Liebe wären du und ich eins, ohne Ich und Du,

frei von verstreuten Fantasien und Aberglauben.

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