
Nimatullahi Sufi-Orden
Sufismus ist eine spirituelle Reise zur Wahrheit durch Liebe, Hingabe und Dienst, basierend auf der Einheit aller Wesen.
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Bevor wir heute Abend mit der stillen Meditation beginnen, möchte ich ein paar Worte darüber sagen, was es bedeutet, sich selbst zu verändern, indem man die eigene Perspektive im Leben ändert.
Der Sufismus ist die Schule der Selbstläuterung. Die Läuterung oder Reinigung des Selbst bedeutet, die negativen und zerstörerischen Qualitäten in uns zu beseitigen, die für uns schädlich sind. Wenn wir den Prozess der Selbstläuterung beginnen, beginnen wir den Veränderungsprozess unserer Selbst. Die Frage, die ich hier stellen möchte, lautet: welche ersten Schritte sollten wir auf dem Weg der Selbstläuterung unternehmen?
Zunächst ein paar Worte dazu, was ich mit „sich selbst verändern“ meine. Warum sollten wir nicht glücklich sein, so wie wir sind? Grundsätzlich sollten wir glücklich sein, so wie wir sind. Es gibt bestimmte Dinge an uns, die wir nicht ändern können, wie die Farbe unserer Haut, die Kultur, in der wir aufgewachsen sind und die Familie, in die wir hineingeboren wurden. Es ist vergeblich, über eine Veränderung dieser Dinge nachzudenken.
Das Annehmen von Eigenschaften und Merkmalen, über die wir keine Kontrolle haben und die wir weder durch bloße Willenskraft noch auf andere Weise ändern können, ist der Beginn des Weges der Hingabe oder Ergebung, welche die Grundlage eines spirituellen Lebens ist.
Es gibt bestimmte andere Eigenschaften, über die wir keine Kontrolle haben, die wir aber doch gleichzeitig ändern können. Und tatsächlich sollten wir versuchen, unsere Einstellung zu diesen Eigenschaften zu ändern in der Hoffnung, dass wir zuletzt die Eigenschaften selbst ändern können. Einige unserer Wahrnehmungen, Überzeugungen, Gefühle, Empfindungen und Wünsche entbehren einer realistischen Grundlage und können zerstörerisch sein. Wir sollten versuchen, uns zu ändern, indem wir solche Erfahrungen nicht für bare Münze nehmen.
Wenn wir in einer Wüste eine Fata Morgana sehen, nehmen wir Wasser wahr, wo keines ist.
Auf ähnliche Weise gibt es Wahrnehmungen und Überzeugungen in unserem Geist, die wir für die Wahrheit halten. Wir fühlen vielleicht Hass gegenüber jemandem, den wir zum ersten Mal sehen, oder fühlen uns von jemandem gekränkt, weil diese Person etwas gesagt oder getan hat, woraufhin wir sie deshalb als unhöflich und unfreundlich erachten.
Wir können sagen, dass diese Gefühle des Hasses oder des Beleidigtseins wie eine Fata Morgana in der Wüste sind. Aus dem, was wir in unserem Geist wahrnehmen, schließen wir, dass unsere Wahrnehmungen wahr sind und nehmen an, dass unsere Gefühle eine Grundlage in der Realität haben. Aber in Wirklichkeit sind diese Gefühle und Wahrnehmungen vielleicht gar nicht wahr. In der Wüste gibt es kein Wasser. Genauso kann die Person, gegenüber der wir Hass empfinden, eine sehr freundliche und großzügige Person sein und unsere Kränkung entstand möglicherweise, weil wir ihre Worte in den falschen Hals bekommen haben und missverstanden haben.
Es gibt hier jedoch noch einen grundsätzlicheren Punkt. Selbst wenn einige unserer Gefühle eine realistische Grundlage haben und unsere Gefühle des Hasses und der Beleidigung durch egoistische und rücksichtslose Menschen verursacht werden, sind unsere negativen Gefühle dennoch zerstörerisch und hindern uns daran, richtig in der Welt tätig zu sein und zu wirken.
Ich will damit nicht sagen, dass wir grobe und unhöfliche Menschen passiv hinnehmen sollten. Vielmehr ist es möglich, mit dem schlechten Verhalten anderer umzugehen, ohne schlechte Gefühle in sich selbst zu hegen. Aber wenn wir solche negativen Gefühle dann tatsächlich erleben, sollten wir sie als gottgegeben betrachten. Wir sollten die Gelegenheit nutzen, um an uns selbst zu arbeiten. Die meisten Menschen nehmen solche negativen Gefühle und Gemütsregungen als Realität an und werden von diesen Gefühlen völlig eingenommen. Dies führt dazu, dass sie sich selbst und andere noch negativer wahrnehmen. Das ist ein zerstörerischer Weg.
Nehmen wir das Beispiel des Gefühls, beleidigt zu sein. Angenommen, du bist zu einer Veranstaltung eingeladen. Der Gastgeber, der ein enger Freund von dir ist, ignoriert dich die ganze Zeit über. Du kommst nach Hause und fühlst dich von deinem Freund beleidigt. Dein Verstand übernimmt die Kontrolle und du beginnst, einen Plan zu entwerfen, wie du dich revanchieren und rächen kannst. Ehe du dich versiehst, bist du vielleicht die ganze Nacht wach, völlig eingenommen durch dieses Gefühl und suchst nach einem möglichen Grund für das nicht angemessene ungerechte Verhalten deines Freundes. Du siehst, dass diese Art des Umgangs mit deinen Gefühlen und Empfindungen völlig sinnlos ist und nirgendwo hinführt. Anstatt dir zu helfen, das Gefühl des Beleidigtseins loszuwerden, verstrickst du dich noch mehr in deinen Gedanken und tauchst noch tiefer in dieses Gefühl ein.
Was wäre eine alternative Herangehensweise? Was wäre eine Einstellung, die uns helfen kann, weniger in unsere negativen Gedanken und Gefühlen verstrickt zu sein und von ihnen verzerrt zu werden? Im Sufismus gibt es ein Sprichwort, das besagt, dass alle unsere Gedanken und Gefühle von Gott kommen und wir diese Gedanken und Gefühle deshalb akzeptieren müssen. Mit anderen Worten, wir haben keine Kontrolle über unsere Gedanken, Empfindungen und Gefühlsregungen und es ist daher besser, sie anzunehmen, anstatt mit ihnen zu kämpfen und von ihnen eingenommen und verzerrt zu werden.
Wenn wir erst einmal akzeptieren, dass wir keine Kontrolle über unsere Gedanken und Gefühle haben, dann können wir eine objektivere und weniger persönliche Haltung zu ihnen einnehmen. Das bedeutet, dass wir aufhören sollten, uns mit unseren Gedanken und Gefühlen zu identifizieren, dass wir aufhören sollten, die Geschichte, die sie erschaffen, Macht über uns ausüben zu lassen. Wir beobachten zum Beispiel das Gefühl des Hasses, doch wir schreiben es nicht uns selbst zu. Wir sagen nicht, dass wir Hass empfinden. Wir glauben nicht, dass Hass echt ist und zu dem gehört, was wir sind. An diesem Punkt findet der Perspektivwechsel statt, also dann, wenn wir uns nicht mehr mit unseren Gedanken und Gefühlen identifizieren. Anstatt zu hassen, beobachten wir den Hass. Anstatt traurig zu sein, beobachten wir die Traurigkeit. Eine der in allen spirituellen Praktiken gebräuchlichen Methoden zur Überwindung zerstörerischer Gefühle und Gedanken ist, sich nicht mit ihnen zu identifizieren und nicht an ihnen zu hängen, so stark und mächtig sie auch zu sein scheinen, sondern solche Gedanken und Gefühle, nur durch Meditation, zu beobachten.
Stell dir das vorige Szenario vor, in dem du dich von deinem Freund beleidigt gefühlt hast. Anstatt zuzulassen, dass das Gefühl beleidigt zu sein dich überwältigt, setzt du dich hin, schließt die Augen und untersuchst das Gefühl, das du hast. Du beobachtest das Gefühl objektiv, als etwas, das nicht zu dir gehört, als Erfahrung, die aus der unsichtbaren Welt zu dir gekommen ist. Was will es dir zeigen, wenn du über dein Gefühl des Beleidigtseins meditierst? Betrachtest du es in gewissem Sinn sozusagen aus der Vogelperspektive. Oder anders gesagt, du transzendierst die Perspektive des Selbst. Wenn du über dein Gefühl des Beleidigtseins meditierst, wirst du feststellen, dass es sich aufzulösen beginnt. Du bemerkst, dass du nicht mehr von ihm verzerrt wirst. Es ist kein Teil von dir. Wenn du deine Perspektive einmal änderst und das Gefühl des Beleidigtseins objektiver betrachtest, wirst du nächstes Mal, wenn du dich beleidigt fühlst, weniger von diesem Gefühl ausgefüllt und verzerrt werden. Dies ist der Beginn des Prozesses der Erläuterung des Selbst und des Weges der Selbstveränderung.
