Aufrichtigkeit

Dr. Javad Nurbakhsh

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Das Kapital auf dem Pfad ist in Wahrheit nichts als Aufrichtigkeit. Aufrichtigkeit wird definiert als „sich so zeigen, wie man wirklich ist“ und „innerlich so sein, wie man sich nach außen hin zeigt“.

Man kann von drei Stufen der Aufrichtigkeit sprechen: Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst, Aufrichtigkeit gegenüber dem Meister und Aufrichtigkeit gegenüber Gott.

1.       Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst

Wenn wir sagen, dass Sufismus das „Erreichen der Einheit“ bedeutet, dann ist „Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst“ gleichbedeutend mit „das äußere Wesen mit dem inneren Wesen zu vereinen“ und dadurch Einheit in sich selbst herzustellen. Wenn es keine Einheit zwischen dem Äußeren und dem Inneren gibt, kann es keine einheitliche Persönlichkeit geben. Diese Disharmonie zwischen dem äußeren und dem inneren Wesen erzeugt Angst und Depressionen. Nur durch die Kraft der Aufrichtigkeit kann man psychophysische Einheit in sich selbst herbeiführen und sich psychischer Gesundheit erfreuen.

Die Ergebnisse der „Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst“ sind daher die Befreiung von der Angst, die aus der Disharmonie der Persönlichkeit resultiert, und die Herstellung psychischer Gesundheit.

2. Aufrichtigkeit gegenüber dem Meister

In dieser Phase der Aufrichtigkeit wird der Sufi, in dem eine psychophysische Einheit hergestellt wurde, durch die Anziehungskraft der Aufrichtigkeit und Liebe des Meisters mit diesem vereint. Dies wird auf dem Pfad als „Auslöschung im Meister” bezeichnet, was an sich eine Form der „Identifikation” ist, um es mit einem in der zeitgenössischen Psychologie gebräuchlichen Begriff zu beschreiben: In diesem Fall nennen die Sufis es „transzendente Identifikation”. Auf dieser Stufe wird das Ego oder die Selbstidentität des Sufis im Meister ausgelöscht, und der Sufi vergisst sich selbst völlig. Ein Beispiel für diese Form der Einheit war die Vernichtung von Rumis Ego in seinem Meister Shams-e Tabrizi.

Diese Aufrichtigkeit befreit den Sufi von den Ängsten des Lebens und der Angst vor Tod und Auslöschung, so dass er sich wie Rumi fühlt, als er ausrief:

 

Ich war tot; ich bin lebendig geworden!

Ich habe geweint; jetzt lache ich!

Das Glück der Liebe ist gekommen,

und ich bin zu ewigem Glück geworden!

 

Die meisten Sufi-Meister setzen die Auslöschung im Meister mit der Auslöschung in Gott gleich.

 

3. Aufrichtigkeit gegenüber Gott

Aufrichtigkeit gegenüber Gott ist die höchste Stufe der Aufrichtigkeit. In diesem Stadium der Aufrichtigkeit, das das Ergebnis der „Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst” und der „Aufrichtigkeit gegenüber dem Meister” ist, wird die Einheit zwischen dem Sufi und Gott durch die Kraft der Aufrichtigkeit und der Gotteserkenntnis hergestellt. Dies wird als „Auslöschung in Gott” bezeichnet, was sich auf die Identifikation des Teils mit dem Ganzen bezieht.

In diesem Stadium verliert der Sufi sein Ego oder seine Selbstidentität und wird zum Ganzen, zum ewigen Leben, denn die Wahrheit existiert für immer.

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