
Nimatullahi Sufi-Orden
Sufismus ist eine spirituelle Reise zur Wahrheit durch Liebe, Hingabe und Dienst, basierend auf der Einheit aller Wesen.
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Vor der heutigen stillen Meditation möchte ich ein paar Worte über die Bedeutung von Träumen im Sufismus sagen.
Während es in der Wissenschaft keinen Konsens darüber gibt, warum wir überhaupt träumen, sind viele Menschen der Meinung, dass Träume eine Bedeutung haben und Botschaften sein können: aus der Welt unseres Unbewussten oder, wie die Sufis es nennen, aus der unsichtbaren Welt.
Die moderne Psychologie geht davon aus, dass die meisten unserer Gedankenprozesse – darunter Ängste, Hoffnungen, Wünsche, Selbsttäuschungen und Traumata - auf der unbewussten Ebene existieren, was bedeutet, dass wir keinen direkten Zugang zu ihnen haben. Freud war der erste, der über Träume als Schlüssel zu unserem Unbewussten sprach und ein System zur Deutung der Träume seiner Patientinnen und Patienten entwickelte. Für Freud sind Träume Tore zu unseren verdrängten Erinnerungen, Sehnsüchten und Wünschen (vor allem sexueller Natur), die größtenteils in der frühen Kindheit geformt wurden und die während des Schlafs ihren Weg in unser Bewusstsein finden. Carl Jung hingegen war der Ansicht, dass Träume aus universellen Symbolen bestehen, die er Archetypen nannte, und dass sie durch diese Archetypen einen Einblick in unsere kollektive menschliche Erfahrung gewähren. Träume richtig deuten zu können, erfordert ein Verständnis der verborgenen Hoffnungen, Ängste, Bestrebungen und Selbsttäuschungen, die sich uns offenbaren. Jung glaubte, dass Träume unsere inneren Konflikte offenbaren und dass wir durch die richtige Analyse und Deutung der Träume eine Lösung für unsere Konflikte finden können, um dadurch eine heile Person zu werden.
Das Sufi-Verständnis von Träumen ist dem von Carl Jung viel näher als dem von Freud. Auch die Sufis betrachten Träume als das Tor zur unsichtbaren Welt عالم غیب, die dem bewussten Erleben von spirituellen Reisenden verborgen ist. Die Träume offenbaren die Probleme von Sufis, ihre Rückschläge, ihr Streben und ihre Fortschritte auf dem spirituellen Weg. Die richtige Deutung eines Traums kann einem Sufi helfen, seinen inneren Konflikt zu verstehen, oder die Deutung kann auf ein ermutigendes Zeichen bei seiner Reise hinweisen. Aber nicht jeder Traum hat eine spirituelle Bedeutung. Ein Traum, in dem man auf einer Straße fährt, ist vielleicht nur ein Traum, in dem eine Erinnerung verarbeitet wird, ohne spirituelle Bedeutung. Spirituelle Träume treten in der Regel nach langen Phasen der Meditation oder nach Phasen des Kampfes gegen das eigene Ego auf, was manchmal zu Konflikten im spirituellen Reisenden führt. Korrekte Interpretationen von Träumen, die beim Entschlüsseln von deren spiritueller Bedeutung helfen, können jedoch nur von denjenigen gegeben werden, die den spirituellen Pfad gegangen sind und die versteckten Gefahren, Kämpfe, Konflikte und Fallstricke auf dem Pfad kennen.
In der Vergangenheit haben einige Sufis versucht, ein aussagekräftiges Lexikon oder Wörterbuch für die Dinge, Ereignisse und Farben zu erstellen, die wir in einem Traum sehen. Zum Beispiel bedeute Gold in einem Traum, dass der Träumende sich im Zustand der Aufrichtigkeit befindet. Einen Panther im Traum zu sehen, zeige, dass die Person an Stolz leidet, oder einen Wolf zu sehen, zeige, dass die Person an Gier leidet. Ich halte diese Art der Traumdeutung für sehr vereinfachend und ungenau. Der Grund dafür ist, dass Träume in der Regel eine Bedeutung haben, die mit der persönlichen Geschichte und dem psychologischen und spirituellen Hintergrund eines Menschen zusammenhängt. Da die Menschen ganz verschiedene psychologische Hintergründe, Kindheiten, Erfahrungen und Bestrebungen im Leben haben, kann es nicht sein, dass ein Symbol in den Träumen aller Menschen und in allen Kulturen und Zivilisationen dasselbe bedeutet.
Um die Bedeutung eines Traums herauszufinden, müssen wir zunächst den psychologischen und spirituellen Hintergrund der Person verstehen, die den Traum hat. Ein und derselbe Traum kann für verschiedene Menschen unterschiedliche Interpretationen haben. Nehmen wir zum Beispiel den folgenden Traum: Eine Person träumt vielleicht, dass sie eine Taube ist, die über eine Wüste fliegt, plötzlich von einem Pfeil getroffen wird und zu fallen beginnt, um sich dann in einen Adler zu verwandeln, der über die Berge fliegt. Ein solcher Traum kann unterschiedlich gedeutet werden, je nach der persönlichen Geschichte der träumenden Person, zu der auch ihre Absichten und ihre Motivation, einen spirituellen Weg zu beschreiten, gehören. Handelt es sich bei dem oder der Träumenden um eine Person, die den spirituellen Weg auf der Suche nach spiritueller Macht und Herrschaft über andere eingeschlagen hat, kann der Traum den Wunsch nach spiritueller Macht offenbaren, dargestellt durch einen Adler, der über die Berge fliegt. Handelt es sich bei dem oder der Träumenden um eine Person, die den spirituellen Weg mit Aufrichtigkeit und dem Wunsch, sich in einen besseren Menschen zu verwandeln, eingeschlagen hat, kann ein solcher Traum ihre Bereitschaft zum Tod ihres Egos und ihre Verwandlung in ein höheres Bewusstsein, das in die göttliche Welt eintreten kann, offenbaren.
Das Verstehen von Träumen im Kontext der spirituellen und psychologischen Geschichte des Individuums setzt voraus, dass die Person, die den Traum deutet, persönliche und genaue Kenntnisse über die Person hat, die zu ihr zur Traumdeutung kommt. Traditionell lebten die Sufis in Gemeinschaften, in denen ein spiritueller Wegweiser die Vorgeschichte jedes Einzelnen kannte und dessen Verhalten täglich beobachten konnte, so dass er über eine intime Kenntnis jedes Einzelnen verfügte, der zu ihm zur Traumdeutung kam. Das Erzählen des Traums durch einen Sufi und seine Deutung durch spirituell Wegweisende kann auch eine enge Verbindung zwischen dem oder der spirituellen Wegweisenden und den spirituellen Reisenden im Sufismus schaffen, so wie man in einem Therapieprozess eine enge Verbindung zu seinem Therapeuten spüren kann.
Sowohl in traditionellen Gesellschaften als auch in der modernen therapeutischen Psychologie ist man sich darüber im Klaren, dass man nicht der Deuter seiner eigenen Träume sein kann. Der Grund dafür ist offensichtlich. Wir sind voreingenommen, wenn es um unsere Träume geht; wir können unsere unbewussten Motivationen, Sehnsüchte und Wünsche nicht erkennen, und daher würde unsere Interpretation unserer eigenen Träume mehr oder weniger dem Ego dienen. Das gleiche Prinzip gilt für den Sufismus. Menschen, die den Sufi-Pfad gegangen sind, sind gut geeignet, die Träume von Novizinnen und Novizen auf dem Weg zu deuten. Menschen, die nicht die Befugnis und Ausbildung haben, Träume zu deuten, können mehr Verwirrung stiften, indem sie falsche Deutungen liefern, genauso wie schlechte Therapeuten ihren Patienten mehr Probleme bereiten können, als sie zu Lösungen verhelfen. In diesem Sinne werden die Menschen, die in den Sufi-Pfad eingeweiht werden, gebeten, ihre Träume nicht mit Menschen zu teilen, die nicht die Befugnis haben, sie zu deuten.
Expertinnen zufolge träumt jeder Mensch zwischen 4 und 6 Mal pro Nacht, aber die meisten von uns erinnern sich nicht an ihre Träume. Manche Menschen behaupten, dass sie sich nie an ihre Träume erinnern. Es stellt sich also die Frage, ob Träumen ein notwendiger Bestandteil des spirituellen Weges ist. Kann jemand, der sich nicht an seine Träume erinnert, auf dem spirituellen Weg genauso Fortschritte machen wie jemand, der viele Träume hat? In der Tat sind Träume nur ein Tor von vielen zur Entdeckung des Unbewussten und der unzugänglichen spirituellen und psychologischen Welt. Es gibt viele andere Möglichkeiten, den Inhalt des eigenen Unbewussten zu enthüllen, oft durch die Beobachtung des eigenen Sprechens und Handelns durch einen vertrauenswürdigen Wegweiser. Sufi-Meister haben schon immer das Verhalten und das soziale Auftreten der spirituellen Reisenden als Anhaltspunkte genutzt, um deren innere Welt zu verstehen und die spirituellen Reisenden über deren Fortschritte oder Misserfolge auf dem Sufi-Pfad zu informieren. Kurzum, ich glaube nicht, dass Träume und Traumdeutungen notwendig sind, um den spirituellen Weg zu gehen, da sie nur eine Methode unter vielen sind, um die unbewusste Welt der spirituell Suchenden auf dem Weg der Liebe zu erschließen.
Schließlich sind Träume im Sufismus Wege, um dem Geliebten in verschiedenen Formen und Gestalten zu begegnen. Wenn man sich in einem Zustand überwältigender Liebe befindet, reagiert das Unbewusste mit Träumen, in denen wir den Geliebten sehen.
Wie Hafez sagt:
ماییم و آستانهی عشق و سر نیاز
تا خواب خوش که را برد اندر کنار دوست
Wir sind bedürftige Liebende, die an der Schwelle der Liebe warten
In der Hoffnung, dass unsere süßen Träume uns zur Geliebten führen.
