Mitgefühl und der Weg der Toleranz

Dr. Alireza Nurbakhsh

April 28, 2025

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In ihrem zeitlosen Roman Wer die Nachtigall stört gibt die Autorin Harper Lee einen tiefen Einblick in die Natur des Mitgefühls:

„Man versteht eine Person erst dann wirklich, wenn man die Dinge aus ihrer Sicht betrachtet ... wenn man in ihre Haut schlüpft und in ihr herumläuft.“

Diese Aussage trifft den Kern des Mitgefühls - eine innere Fähigkeit, die Gefühlswelt einer anderen Person wahrzunehmen, zu fühlen und mit dieser Gefühlswelt in Resonanz zu treten. Wahres Einfühlungsvermögen erfordert, dass wir für einen Moment unsere eigene Perspektive aufgeben und uns die Sichtweise einer anderen Person einnehmen.

Vom spirituellen Standpunkt aus gesehen ist Mitgefühl mehr als eine psychologische Eigenschaft; sie ist ein Tor zum Herzen der Einheit. Diejenigen, die den Weg der Achtsamkeit und der inneren Reflexion beschreiten, stellen oft fest, dass diese Fähigkeit auf natürliche Weise in ihnen erwacht. Umgekehrt kann bei Menschen, die von einer tiefen emotionalen Abkopplung betroffen sind - wie Soziopathinnen oder Psychopathen – das Mitgefühl inaktiv oder gänzlich abwesend erscheinen.

Mitgefühl ist der fruchtbare Boden, auf dem Toleranz wächst. Wenn wir die Welt mit den Augen von Anderen wahrnehmen, öffnen wir uns für Akzeptanz. In diesem Sinne ist Toleranz kein passives Aushalten, sondern ein aktives Begrüßen von Vielfältigkeit - eine Anerkennung, dass jede Seele ihren eigenen heiligen Lehrplan durchläuft. Ohne diese Eigenschaft ist die Gesellschaft anfällig für Spaltung, Konflikte und - in ihrer tragischsten Form - für Krieg.

Spirituelle Traditionen, einschließlich des Sufismus, legen großen Wert auf die Kultivierung von Mitgefühl. Auf dem Sufi-Pfad werden zwei Praktiken besonders hoch eingeschätzt:

  1. Selbstloser Dienst: Wenn wir anderen ohne Erwartung oder Wunsch nach Anerkennung dienen, beginnt der Schleier zwischen dem Selbst und dem Anderen zu verschwinden. Praktiken bescheidenen Dienens erlauben es uns, die Freuden und Leiden derer zu erfahren, denen wir helfen, und nähren Mitgefühl und Verständnis im Herzen.
  2. Kontemplation des Einsseins: Die mystische Einsicht in die Einheit des Seins lädt uns ein, die gesamte Existenz als Ausdruck einer einzigen göttlichen Realität zu betrachten. Obwohl dieser Zustand der Verwirklichung des Einsseins in erster Linie erfahrungsbasiert ist, hilft uns die Kontemplation darüber, die Illusion der Vielheit aufzulösen. In diesem Bewusstsein ist dein Schmerz auch mein Schmerz, meine Freude auch deine Freude. Wir sind nicht viele, sondern eins.
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