Sufismus in der heutigen Zeit

Dr. Javad Nurbakhsh

< Back to Discourse Library
Am Anfang war das Feuer der Liebe nichts weiter als
          eine flackernde Flamme.
Aber seither sind viele hinzugekommen
          um seine Intensität zu verstärken

Hadsch Mulla Hadi Sabziwari

Angesichts der verbreiteten Missverständnisse, die heutzutage in Bezug auf den Sufismus bestehen, hielt es Dr. Javad Nurbakhsh für angebracht, einige grundlegende Punkte zu verdeutlichen. Die Menschen sollten sich darüber im Klaren sein, dass sich der Sufismus von heute erheblich von dem von vor tausend Jahren unterscheidet. Außerdem unterliegt er entsprechend den sich wandelnden Bedingungen der Gesellschaft ständigen Weiterentwicklungen.

Drei solcher Entwicklungen wollen wir hier anführen:

1. Erstens: Quietismus und Abgeschiedenheit

In der Sufi-Praxis werden Quietismus (hier gemeint ist eine Art Weltflucht) und Abgeschiedenheit, wie etwa in der Isolation zu sitzen oder sich Tag und Nacht in Andacht zu befinden, verurteilt. Alle Meister des Pfades hatten ein aktives soziales Leben und ein Berufsleben; sie haben nie als Schmarotzer der Gesellschaft gelebt. In der Vergangenheit waren einige Meister gezwungen gewesen, sich von der Welt zu isolieren, wegen der Hinterlist dogmatischer Kleriker, die den Sufismus offen oder verdeckt bekämpften. Solche Meister zogen sich aus der Gesellschaft zurück, um der Belästigung durch den Mob zu entgehen, der von feindseligen Klerikern aufgehetzt wurde und alle Sufis als Ungläubige und Ketzer brandmarkte.

Heute jedoch gelten der Rückzug in die Abgeschiedenheit und die Isolierung von der Gesellschaft im Sufismus als inakzeptabel. Alle Sufis sind angehalten, einer Arbeit nachzugehen, produktiv in der Gesellschaft zu arbeiten, Geld zu verdienen und ihre Familien zu unterstützen. Vor allem müssen sie anderen dienen. Wenn ein/e Sufi untätig in einer Ecke sitzt, kann man sicher sein, dass diese Person entweder verblendet oder heuchlerisch ist. Sufis von heute sind also weder Einsiedlerinnen noch weltabgeschieden, sondern aktive Teilnehmende an der Gesellschaft.

2. Zweitens: Dienst an der Schöpfung

Ein wesentliches Prinzip des Sufismus ist der Dienst an der Schöpfung, also an der Welt um einen herum. Folglich sind wahre Sufis niemals untätig und faul. Sufis sind nicht nur produktive Verdienerinnen und Verdiener in der Gesellschaft, sondern geben als solche auch großzügig, um anderen zu helfen und ihre Herzen zu erfreuen. Wenn Sufis in der Vergangenheit bettelten, so geschah dies lediglich aus Disziplin, um das Ego abzubauen. Und in der Tat gaben solche Sufis alles, was sie erhielten, an die Armen weiter. In der heutigen Welt jedoch muss jeder und jede Sufi arbeiten und produktiv sein, und niemand sollte bei anderen betteln oder der Gesellschaft auf der Tasche liegen. Wenn ein/e Sufi sich in äußerlichen Andachten und spirituellen Übungen betätigt, dann ausschließlich zu dem Zweck, das Ego zu disziplinieren, in dem Bemühen, seinen oder ihren Begierden zu widerstehen und sich innerlich zu reinigen. Ein/e solche/r Sufi versteht sehr gut, dass Gott unsere Andachtsübungen nicht braucht. Der Dienst an der Schöpfung ist der Dienst an Gott – der Gottesdienst. Und jemand, der anderen dient, erhält Gottes Gunst und Segen. Folglich schätzen Sufis das Leben als eine Gelegenheit, den Geschöpfen Gottes zu dienen, zu helfen und deren Herzen zu erleichtern, wobei Sufis all diese Geschöpfe ausschließlich als Manifestation Gottes betrachten. Die eigene Absicht ist allein auf Gott ausgerichtet. Denn als Liebende oder Liebender Gottes, will man in der Praxis dieses Liebens nichts von den Geschöpfen Gottes.

3. Drittens: Auslöschung in Gott

Der Sufi begibt sich auf einen Weg, um in Gott ausgelöscht zu werden. Die Schwierigkeit, dieses Ziel zu erreichen, wird in einem Vers von Rumi angedeutet, der erklärt:

Von tausend Eingeweihten ist vielleicht einer ein Sufi. Der Rest lebt einfach vom Vermögen des Meisters.

Die Kraft, die Ausdauer und die Fähigkeit, dieses Ziel zu erreichen, liegen nicht in der Reichweite aller. Solange jedoch der Dienst einer Person an der Schöpfung immer auf Gott ausgerichtet ist und er oder sie in seinem oder ihrem Streben beständig bleibt, wird diese Person in der einen oder anderen Form durch göttlichen Erfolg belohnt werden.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der Sufismus eine Schule der Gottesverehrung und des Dienstes an der Menschheit ist, ohne jegliche Spur von Anmaßung oder Heiligkeit.

< Previous DiscourseNext Discourse >