Hingabe als Weg der Selbstreinigung

Bevor wir mit der stillen Meditation beginnen, möchte ich ein paar Worte über die Praxis der Hingabe als Weg der Selbstreinigung sagen.

In einem meiner früheren Vorträge über Selbstveränderung durch Perspektivwechsel habe ich erwähnt, dass eine Möglichkeit, mit negativen Gedanken und Gefühlen umzugehen, darin besteht, eine objektive Perspektive einzunehmen, während wir über solche Gedanken und Gefühle meditieren. Aber es gibt einen direkteren Ansatz zur Selbstreinigung im Sufismus, und das ist der Weg der Hingabe oder Eradat.

Allgemein gesagt: wir können etwas oder jemandem ergeben sein, und wahre Hingabe geschieht, wenn wir das Wohlergehen des Objekts der Hingabe freiwillig über unser eigenes Wohlergehen stellen. Mit anderen Worten, man kümmert sich mehr um die Person, der man ergeben ist, als um sich selbst. Es ist wichtig zu betonen, dass ein wahrer Akt der Hingabe aus freien Stücken und freiwillig vollzogen wird. Das heißt, dass es einen Unterschied zwischen menschlicher Hingabe und tierischer Hingabe gibt. Ein Hund scheint keine Wahl bei der Hingabe an seinen Besitzer zu haben, aber Menschen haben eine Wahl, wem oder was gegenüber sie Hingabe praktizieren.  Auch von denen, die durch Täuschung oder Gehirnwäsche in den Zustand der Knechtschaft oder Unfreiheit versetzt werden, kann man nicht sagen, dass sie echte, freiwillige Hingabe haben.  

Es ist normal, dass Menschen ihr Leben mit Hingabe denjenigen widmen, die mit ihnen genetisch verbunden sind. Eltern widmen sich im Großen und Ganzen ihren Kindern, aber man könnte sagen, dass sie ein eigennütziges Interesse an ihrer Hingabe zu ihren Kindern haben. Vielleicht wollen wir alle unbewusst, dass es unseren Kindern im Leben besser geht, weil sie unsere Gene in sich tragen und die natürliche Auslese uns dazu drängt, für das Überleben unserer Gene zu sorgen.

Doch bei einem reinen Akt der Hingabe an jemanden sollte kein Eigeninteresse im Spiel sein. Doch selbst in der Praxis spiritueller Hingabe kann ein gewisses Element des Eigeninteresses vorhanden sein. Man widmet sich einem spirituellen Lehrer oder einer spirituellen Lehrerin, weil man ein besserer Mensch werden will, weil man gereinigt werden will oder weil man eine Sehnsucht nach der spirituellen Wahrheit hat. Es ist sehr selten, dass ein spirituell Suchender seinem spirituellen Wegweiser ohne irgendwelche Wünsche, Erwartungen oder Hintergedanken ergeben ist.

Im spirituellen Kontext geschieht die anfängliche Hingabe an jemanden durch Anziehung - Anziehung zu den Qualitäten des spirituellen Lehrers. Die anfängliche Anziehung ist kein freiwilliger Akt. Menschen fühlen sich aus allen möglichen Gründen zueinander hingezogen, und ich befasse mich hier nicht wirklich mit den Gründen oder Ursachen für solche Anziehungen. Die wichtige Frage hier ist: wenn die Anziehung in Hingabe umschlägt, wie erleichtert dann die Praxis der Hingabe den Prozess der Selbstreinigung?

Ein wichtiger Aspekt echter Hingabe an einen spirituellen Wegweiser ist die Tatsache, dass sie zur Erfahrung von Liebe führt. Die Liebe entsteht schließlich nach beharrlicher und kontinuierlicher Hingabe. Während des Prozesses der Hingabe durchläuft man jedoch viele verschiedene Arten von Gefühlen und Zuständen, manchmal positive und manchmal negative. Positive Zustände sind z.B. das Gefühl, einen Sinn im Leben zu haben, oder die Erfahrung von Liebe und Selbstlosigkeit. Zu den negativen Zuständen gehören das Gefühl, vom spirituellen Lehrer nicht gewürdigt zu werden, oder das Gefühl des Zweifels, ob die Person, der man sein Leben gewidmet hat, die richtige Person ist, oder ob man letztlich sein Leben mit der Praxis der Hingabe verschwendet.  Zweifel ist eine menschliche Eigenschaft, die in unserem spirituellen Kampf allgegenwärtig ist und uns manchmal dazu bringen kann, den Pfad ganz aufzugeben.

Wenn wir im Prozess der spirituellen Hingabe von negativen Gefühlen und Gedanken überwältigt werden, rettet uns das Vertrauen, das wir für die Person haben, der wir uns hingeben. Wenn wir ein überwältigendes Vertrauen haben, dass die Person, der wir uns hingeben, wirklich fürsorglich und liebevoll ist und nicht nach Eigennutz oder persönlicher Befriedigung strebt, können wir diese negativen Gedanken und Emotionen überwinden und sind in der Lage, den Weg der Hingabe weiter zu beschreiten. 

Wenn die Liebe in der Person, die ihrem spirituellen Wegweiser ergeben ist, wächst, dient sie sozusagen als Alchemie, die alle negativen Eigenschaften in positive Qualitäten umwandelt. Dies ist das grundlegende Wesensmerkmal des Sufismus. Die Liebe leistet die ganze Arbeit bei der Umwandlung und Läuterung des Individuums. Wenn wir aufgrund unserer Hingabe an einen anderen Liebe erfahren, verblasst allmählich alles Negative, Egoistische oder Destruktive.

In unserer heutigen Kultur, in der viel Wert auf die eigene Individualität und Selbstdarstellung gelegt wird, wird die Praxis der Hingabe an eine andere Person, insbesondere in einem religiösen oder spirituellen Kontext, misstrauisch und negativ betrachtet. Es gibt natürlich zahlreiche Beispiele, in denen die Hingabe an einen spirituellen Lehrer, der aus Eigeninteresse handelte, katastrophale Folgen hatte. Eine Beziehung der Hingabe kann sich wie jede andere menschliche Beziehung als zerstörerisch erweisen. Dies kann geschehen, wenn die Person, welche die Hingabe empfängt, aus Eigennutz handelt und das Vertrauen, das in sie gesetzt wird, missbraucht. Aber das Vorhandensein eines möglichen Missbrauchs in der Beziehung sollte uns nicht zu der Annahme verleiten, dass alle derartigen Beziehungen zum Scheitern verurteilt sind.

Die Sufis haben wiederholt darauf hingewiesen, dass es besser ist, einem Tier ergeben zu sein als sich selbst. Der Grund dafür ist offensichtlich. Die Liebe zu einem Anderen ist der Anfang des Weges der spirituellen Wahrheit. Der Sinn unserer Existenz besteht darin, Liebe auszudrücken und Liebe zu empfangen, und die Praxis der Hingabe macht dieses Ziel möglich. Wie Hafez sagt,

طفیل هستی عشق اند آدمی و پری ارادتی بنما تا سعادتی ببری

Menschen und Engel existieren aus Liebe,

Zeige etwas Hingabe, damit du Glück daraus ernten kannst.