Freundschaft

Dr. Alireza Nurbakhsh

October 25, 2023

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Vor unserer stillen Meditation möchte ich ein paar Worte zum Thema Freundschaft sagen. 

Als ich noch viel jünger war, las ich folgende Geschichte über Ibrahim Adham, einen Sufi-Meister aus dem 9. Jahrhundert, die mich seitdem nicht mehr losgelassen und mich zum Nachdenken über das Wesen der Freundschaft gebracht hat.

Ein Fremder kam bei Ibrahim Adham zu Besuch und blieb drei, vier Tage. Am Ende seines Aufenthalts wandte er sich an Ibrahim und sagte: “Vielen Dank, ich frage mich, ob Sie mir nun einige meiner Fehler aus den Tagen meines Besuchs bei Ihnen nennen könnten?” Ibrahim antwortete: “Ich betrachte dich mit den Augen eines Freundes, und deshalb konnte ich keine Fehler an dir entdecken.” Das brachte mich zum Nachdenken: Was bedeutet es, jemanden mit den Augen eines Freundes zu betrachten und keine Fehler zu sehen?

Zuerst dachte ich darüber nach, wie Menschen sich zueinander hingezogen fühlen, um Freunde zu werden, und wurde an Rumis Gedicht erinnert:

ذره ذره کاندرین ارض و سماست
جنس خود را هریکی چون کهرباست

“Alle Teilchen im Universum, von dieser Erde und aus den Himmeln darüber hinaus, ziehen ihresgleichen an wie ein Magnet.” Wir Menschen haben alle unterschiedliche Eigenschaften. Manchmal bemerken wir, dass uns bestimmte Eigenschaften fehlen, wenn wir einem anderen Menschen begegnen, manchmal haben wir ähnliche Eigenschaften. Wir sind ständig auf der Suche nach Menschen, die uns ergänzen, vervollkommnen und lehren können. Meistens sind ähnliche Eigenschaften in uns die Grundlage der Anziehung. Es gibt jedoch ein ganzes Spektrum von Eigenschaften im Menschen. Am einen Ende des Spektrums gibt es Menschen, die Verbrechen begehen und betrügen und unter gleichgesinnten Menschen lernen wollen, dies zu perfektionieren, und welche sich deshalb dem organisierten Verbrechen und der Mafia anschließen. Dann gibt es am anderen Ende des Spektrums diejenigen, die sich für göttliche Eigenschaften und Ideale wie Güte, Liebe und Freundschaft interessieren; sie ziehen andere Arten von Menschen an.

Wir finden also Freunde in den Menschen, die bestimmte Eigenschaften haben, die wir zu vervollkommnen suchen, und wir teilen mit ihnen eine bestimmte Perspektive, ein gemeinsames Ziel im Leben. Durch diese Anziehungskraft, wenn diese Chemie stimmt, werden wir zu Freunden; um voneinander zu lernen, uns gegenseitig zu vervollkommnen und zu ergänzen. Vielleicht spürte Ibrahim Adham in der Geschichte eine bestimmte Eigenschaft - Aufrichtigkeit zum Beispiel -, die der Gast hatte, und sah keine Fehler, sondern nur diese Eigenschaft und gab ihm alles, was er konnte, um sie zu vervollkommnen.

Der zweite Punkt, über den ich im Zusammenhang mit Freundschaft sprechen möchte, ist die Loyalität. Wir hören oft von Treue und Loyalität in der Freundschaft. Es gibt zwei Punkte, die ich über Loyalität und Treue ansprechen möchte. Der erste Punkt ist die Frage, warum Loyalität gegenüber einem Freund oder einer Freundin notwendig ist. Wenn man eine bestimmte Eigenschaft vervollkommnen oder in sich selbst kultivieren will, muss man sich anstrengen, Zeit investieren und die andere befreundete Person, den Freund oder die Freundin zu schätzen wissen, die einem helfen kann, diese Eigenschaft zu vervollkommnen. Deshalb erfordert es ein gewisses Maß an Loyalität, um die Stufe zu erreichen, die man erreichen möchte, und nachdem man die Eigenschaft angenommen hat, bleibt man loyal aus Dankbarkeit gegenüber dieser Person, die diese Eigenschaft oder dieses Wissen in einem kultiviert hat. Das bringt mich zu der zweiten Frage, die auch für jede Art von Freundschaft relevant ist, insbesondere für Freundschaften, die mit spirituellen Schulen zu tun haben, und zwar: Wie kann man loyal sein? Wie ist es möglich, Loyalität oder Treue zu praktizieren?

Aus meiner Erfahrung kann ich sagen: in der Zeit, als ich aufgewachsen bin, begegnete ich immer wieder Menschen, die sich zu jedem Zeitpunkt mit dem Moment vor ihrer ersten Begegnung mit dem spirituellen Meister und dem Beginn des spirituellen Weges verglichen haben. Sie sprachen darüber, was sie aus der Freundschaft mit dem Meister und der Freundschaft mit den anderen Sufis gewonnen haben... wie sie vorher und nach dem Beginn ihrer Freundschaft waren.

Das ist ein wichtiger Bezugspunkt. Versetze dich einfach immer dorthin zurück, wo du warst, bevor du zur Khaniqah und zum spirituellen Weg kamst. Denke darüber nach, ob du irgendwelche Fortschritte gemacht hast, was die Eigenschaften angeht, die du angestrebt hast, oder über die Dinge, die passiert sind. Wenn du siehst, dass du im Hinblick darauf, wo du am Anfang standest, Fortschritte gemacht hast, schafft das in dir ein Gefühl der Dankbarkeit und damit eine Art von Treue zu dem, was du der Schule oder deinem Lehrer schuldest.

Ich wurde an eine Geschichte erinnert, die ich auch in meiner Jugend gelernt habe und die von Rumi in seinen Mathnawi erzählt wurde. Es ist die Geschichte von König Mahmoud und Ayaz, seinem Lieblingsdiener, oder Gefährten. In dieser Geschichte schenkte Sultan Mahmud, der Ayaz sehr nahe stand, diesem viele Schätze und Besitztümer. Die Gefährten und Berater des Königs wurden sehr eifersüchtig auf die Beziehung zwischen dem König und Ayaz, also gingen sie zum König und beschwerten sich über ihn. Sie erzählten dem König eine erfundene Geschichte, nämlich dass Ayaz ein Zimmer hat, das verschlossen ist, sodass niemand hinein kann, und dass sie vermuten, dass Ayaz viele Besitztümer des Königs gestohlen hat und sie in diesem Zimmer aufbewahrt. Sie säten Zweifel im König, und so befahl er ihnen, die Tür aufzubrechen und nachzusehen, was sich darin befand. Als sie hineingingen, sahen sie ein Paar alte Pantoffeln und einen Hirtenmantel. Sie gingen hin und erzählten dem König, was sie gefunden hatten. Und der König ließ Ayaz rufen und bat ihn zu erklären, was er in diesem Zimmer tat und warum er diese Gegenstände dort aufbewahrte. Ayaz antwortete: „Jeden Tag gehe ich dorthin und trage ein Paar alte Pantoffeln und den Hirtenmantel, den ich damals trug, als ich als Hirte arbeitete, bevor ich dich traf. Das soll mich daran erinnern, dass ich in Wirklichkeit nur ein Hirte bin und es der Großzügigkeit zu verdanken habe, dass ich jetzt solche Besitztümer und eine solche Stellung habe. In Wahrheit bin ich immer noch der arme Hirte. Ich bin nur durch die Freundlichkeit des Königs zu dem geworden, was ich jetzt bin, und dafür bin ich ihm immer dankbar.

Loyalität und Treue sind Eigenschaften, die du in dir selbst kultivieren musst, indem du dich jetzt, nach vielen Jahren, in denen du von der Gesellschaft deines Freundes profitiert hast, mit dem vergleichst, was du warst, bevor du ihn trafst. Das Gleiche gilt für die Khaniqah und die Sufis um dich herum.

Vergiss nie, was du gelernt hast. Natürlich verändert sich die Welt ständig, Menschen verändern sich, andere Menschen kommen und manche gehen. Mag sein, dass du auf dem Pfad auf einige Probleme stößt, das Leben ist voller Beschwerlichkeiten... aber komm immer wieder darauf zurück, was du gelernt hast. Das wird dir helfen, auf dem Pfad und auf dem Weg der Freundschaft und der Liebe zu bleiben.

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