Anderen Dienen

Dr. Alireza Nurbakhsh

October 28, 2023

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Vor der stillen Meditation möchte ich eine Frage erörtern, die mir vor Kurzem gestellt wurde. Die Frage lautete: welchen Anteil unseres Lebens sollten wir uns selbst widmen und wie viel von unserem Leben sollten wir in den Dienst anderer Menschen stellen?

Diese Frage hat mich zum Nachdenken über die Entwicklung östlicher Spiritualität im Westen gebracht. Ich glaube, nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen beträchtlichen Wohlstand, und in den 60er Jahren reiste eine große Anzahl junger Menschen aus Europa und Amerika in den Osten, auf der Suche nach Spiritualität und dem Sinn des Lebens. Sie wurden mit Disziplinen wie Achtsamkeit, Meditation, Yoga, Sufismus und vielfältigen spirituellen Traditionen bekannt gemacht. Schließlich kehrten diese jungen Menschen nach Hause zurück und führten östliche Spiritualität in ihren eigenen Ländern ein. Der Nimatullahi-Orden war keine Ausnahme dieser Entwicklung. Der Orden wurde in den frühen 70er Jahren von meinem Vater im Westen eingeführt, nachdem eine Reihe junger amerikanischer und europäischer Menschen im Iran in den Orden initiiert wurde und dann nach Hause zurückkehren musste. Es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern, dass all diese spirituellen Techniken ursprünglich im Osten entwickelt wurden, um einen gewissen Grad der Erleuchtung und des Erwachens zu erreichen, und zwar einzig und allein zu dem Zweck, anderen zu helfen und zu dienen. Nachdem der Buddha beispielsweise den Zustand des Erwacht-Seins erreicht hatte, machte er es zu seiner wichtigsten Lebensaufgabe, die Menschen vom Leid in der Welt zu erlösen.

Nach der Einführung dieser Disziplinen im Westen haben einige Menschen festgestellt, dass bestimmte östliche spirituelle Techniken wie Achtsamkeit, Meditation und Yoga angewandt werden können, um Belastungen des modernen Lebens und Symptome wie Angstzustände, Depressionen und verschiedene Arten von Neurosen zu lindern. Diese Techniken werden heute von vielen Menschen praktiziert, um mit psychischen Problemen umzugehen und eine positive und ausgeglichene Lebenseinstellung zu erreichen. Wie viele andere importierte Denksysteme und spirituelle Disziplinen, die in den Westen kamen, wurden diese spirituellen Traditionen bald als profitable Institutionen angesehen, welche Praktiken zur Verfügung stellen, die einzelnen Individuen helfen, den größten materiellen Gewinn in ihrem Leben zu erzielen. So ist es heutzutage nicht unüblich, dass Unternehmen ihre Angestellten bitten, Achtsamkeits- und Meditationskurse zu besuchen, um die Produktivität zu steigern und bessere Wege zu finden, Stress am Arbeitsplatz zu bewältigen.

Es ist auch üblich, dass Menschen viel Geld dafür ausgeben, Vorträge von spirituellen Gurus und Praktiker*innen zu hören, um so spirituelle Konzepte wie “Erweckung”, “kein Selbst haben” oder „das Erleben spiritueller Ekstase” zu “verstehen”. In Anbetracht dessen, was jetzt in den westlichen Ländern in Bezug auf die östlichen Traditionen geschieht, scheint es, dass die Frage, die ich zu Beginn dieses Vortrags aufgeworfen habe: “Wie viel Zeit sollte man sich in seinem Leben für sich nehmen und wie viel davon sollte man anderen dienen und helfen?” in der heutigen Zeit im Westen zugunsten des Einzelnen beantwortet wird. So gut wie jeder benutzt spirituelle Traditionen für sich selbst, um eine Art von Glück und Zufriedenheit im Leben zu erlangen oder sogar, um einfach nur mit den Belastungen des modernen Lebens fertig zu werden. 

Ich wuchs in den 60er Jahren im Iran in einer Umgebung auf, in der die Menschen einen großen Teil ihres Lebens dem Dienst an anderen Menschen widmeten. Die meisten dieser Menschen übten Berufe aus, aber trotz der üblichen Belastungen des modernen Lebens und trotz finanzieller Nöte hatte es für sie in ihren Leben oberste Priorität, anderen zu dienen und zu helfen. Natürlich haben nicht alle Sufis so gehandelt, aber es gab ein paar, die wirklich für andere Menschen lebten. Die Erinnerung daran führt mich zu der Frage: Was trieb diese Menschen dazu, ihre eigenen Bedürfnisse außer Acht zu lassen und sich auf andere Menschen zu konzentrieren? 

Was mir am meisten von ihrem Dienst an Anderen in Erinnerung geblieben ist, ist, dass das Dienen für sie keine lästige Arbeit war und sie es nicht aus Pflichtgefühl taten. Es war, als ob sie zum Dienen getrieben würden. Ich denke, was sie dazu trieb, anderen zu helfen, war die Kraft der Liebe, die sie in sich selbst fanden. Im Sufismus ging es für sie in erster Linie darum, anderen zu helfen. Sie begannen den Sufi-Pfad, um die Liebe in sich selbst zu kultivieren, zunächst durch die Liebe zu ihrem spirituellen Wegweiser und ihren spirituellen Weggefährtinnen oder Weggefährten, um dann diese Liebe allmählich auszuweiten auf die ganze Menschheit und schließlich auf alles, was existiert. Diese Liebe führte sie dazu, die positiven Aspekte und die Schönheit in allem zu sehen, anstatt das Negative. Das brachte sie wiederum dazu, anderen zu helfen und sie zu unterstützen. Sobald man in sich selbst die Fähigkeit entdeckt, alles zu lieben, hat man keine andere Wahl, als anderen zu dienen und zu helfen.

Wenn das Dienen der Liebe entspringt, gibt es kein Gefühl von Belastung oder Verpflichtung. Es ist dann auch nicht notwendig zu warten, bis man totalen inneren Frieden oder vollkommenes inneres Glück gefunden hat, um anderen zu dienen. Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass Helfen, Freiwilligenarbeit und Dienst am Nächsten Depressionen und Angstzuständen sogar entgegenwirken.

Die Frage, wie viel Zeit du in deinem Leben dir selbst widmen solltest und wie viel davon anderen Menschen, hängt also in Wahrheit davon ab, wie viel Liebe du in dir hast oder in dir kultivierst. Je mehr Liebe du in dir selbst findest oder in dir kultivierst, desto stärker wirst du angetrieben, anderen zu dienen und zu helfen. Manche Menschen können unbegrenzt lange und konstant im Zustand der Liebe sein, und in diesem Zustand haben sie das Gefühl, keine andere Wahl zu haben, als ihr Leben anderen Menschen zu widmen.

Als Nimatuallahi-Sufis sollten wir alle versuchen, die Kraft der Liebe in uns aufzunehmen und in uns zu kultivieren. Das hilft uns dann wiederum, anderen zu dienen und helfen, soviel wir nur können.

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