Der Weg des Tadels

Dr. Alireza Nurbakhsh

May 10, 2020

< Back to Discourse Library

Wir leben in einer Welt, in der es akzeptabel geworden ist, anderen die Schuld zu geben, wenn wir mit Unglücksfällen, Katastrophen, Unfällen und sogar unseren eigenen Fehlern konfrontiert werden. Aber wie sollten wir an diese unerwünschten Ereignisse herangehen? Mit dem Finger auf andere Menschen als Quelle unseres Unglücks zu zeigen, ist der einfachste Ausweg, denn das scheint uns davor zu bewahren, uns überhaupt mit dem Problem auseinandersetzen zu müssen.

Natürlich merken wir bald, dass das Problem dadurch nicht verschwindet. Selbst wenn andere der Hauptgrund für unser Unglück waren oder dazu beigetragen haben, müssen wir mit dem Schmerz dessen, was uns passiert ist, leben; der Schmerz und die Trauer werden nicht verschwinden, selbst, wenn wir uns davon überzeugen, dass es nicht unsere Schuld ist. Ich möchte eingangs sagen, dass ich nicht dafür eintrete, dass Menschen für ihr schlechtes Verhalten und ihre Verfehlungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Verantwortlichkeit und Bestrafung für kriminelles und unmoralisches Verhalten sind die Grundlage jeder Zivilgesellschaft. Ohne diese besteht für jede Gesellschaft die Gefahr, ins Chaos gestürzt zu werden. Ich schlage auch nicht vor, dass man daran festhält, sich für Misshandlungen, die man in der Kindheit und Jugend erleiden musste, selbst die Schuld zu geben. Was ich sagen will, ist, dass wir nicht die Trauer, die durch unser Unglück verursacht wurde, nicht bewältigen können, indem wir andere beschuldigen.

Der erste Schritt im Umgang mit jedem Unglück ist, es zu akzeptieren, was bedeutet, dass wir anerkennen müssen, dass es geschehen ist und dass es Teil unseres Lebens ist. Das Unglück zu akzeptieren bedeutet, die Verantwortung für die Bewältigung seiner Folgen zu übernehmen, auch wenn es nicht völlig oder gar nicht unsere Schuld ist. Selbstverständlich können wir die Existenz des Unglücks auch leugnen und es tief in unserem Unbewussten vergraben, aber dies ist kein wirksamer Weg, um damit fertig zu werden. Zum Erwachsensein gehört die Fähigkeit, mit Trauer und Unglück ebenso gut umgehen zu können wie mit Freude und Glück.

Der zweite Schritt ist Vergebung. Sobald wir akzeptieren, dass das Ereignis Teil unseres Lebens ist und dass es in unserer Verantwortung liegt, damit umzugehen, müssen wir allmählich dazu kommen, anderen zu vergeben, von denen wir glauben, dass sie für unser Unglück verantwortlich sind. Das kann einige Zeit dauern, aber je mehr wir das Ereignis als unvermeidliche Folge unserer Geburt in eine unberechenbare Welt akzeptieren, über die wir wenig Kontrolle haben, desto leichter wird es uns fallen, anderen zu vergeben, die uns Unrecht angetan oder unser Unglück verursacht haben.

Der dritte Schritt im Umgang mit einem Unglück besteht darin, es als eine Lektion in Demut zu nutzen. Wir sollten das Unglück als eine Erinnerung daran betrachten, dass wir die Ereignisse in der Welt nicht unter Kontrolle haben, und egal, was wir tun, wir können der Situation, mit der wir konfrontiert sind, nicht entkommen. Wir haben nicht die Macht, die Uhr zurückzudrehen oder können nicht so tun, als ob das Unglück nicht geschehen wäre. In gewisser Weise zerbricht das Unglück unseren Stolz, der aus dem Irrglauben herrührt, dass wir unser Leben völlig unter Kontrolle haben, und schlimme Dinge nur Menschen passieren, die nicht intelligent genug sind oder keinen rechtschaffenen Weg beschritten haben.

Die Sufis haben schon lange begriffen, dass sie den Anschein von Unglück erwecken und die Tadel anderer Menschen auf sich selbst lenken können, um ihr Ego zu disziplinieren und es von Stolz und Heuchelei zu reinigen.

Historisch gesehen begann die Bewegung der Malamatiyya (der Weg des Tadels) um das 9. Jahrhundert herum im Nahen Osten, und bald wurde ihre Praxis unter den Sufis weit verbreitet. Pioniere waren dabei die großen Sufis aus Chorasan wie Abu Sa'id, Bayazid und Kharaqani. Der Weg des Tadels soll Stolz und Heuchelei des Egos entlarven und so dazu beitragen, dass man Zustände der Demut und Aufrichtigkeit erreicht. Die Sufis schufen aktiv Umstände, unter denen man ihnen vorwarf, nicht fromm oder ethisch zu handeln. Das Ziel war dabei, das falsche Bild zu zerstören, das sie oder die Gesellschaft für sie geschaffen hatten. Auf diese Weise zeigte ein Meister seinen Schülerinnen und Schülern, dass sie sich mehr einem Götzen oder einem Bild, das sie in ihren Köpfen geschaffen hatten, verschrieben hatten, als dem eigentlichen spirituellen Wegweiser. 

Eine herausragende Figur auf dem Weg des Tadels war Bayazid. Es gibt viele Geschichten darüber, wie er aktiv die Verachtung der Menschen suchte, um sein eigenes Ego zu zerschlagen und den Stolz und die Heuchelei seiner Jünger zu entlarven. Einmal gingen die Menschen von Bastam zum Stadttor, als sie hörten, dass Bayazid von seiner Pilgerreise nach Mekka zurückkehrte, um ihn mit Ehre und Ehrfurcht zu empfangen. Bayazid schloss sich für eine Weile dem an, was die Menge von ihm erwartete, aber ihm wurde bald klar, dass er dem ein Ende setzen musste. Es war der Monat Ramadan, und alle fasteten, also erwartete man natürlich auch von Bayazid, dass er fasten würde. Stattdessen nahm er ein Stück Brot aus seiner Tasche und fing an, es zu essen. Kaum hatte er dies getan, verließen ihn alle umherstehenden Menschen um ihn herum angewidert.

Bayazid warnt uns hier vor den Gefahren einer Identifikation mit unserem rechten Handeln oder dem Bild, was wir von uns selbst entwerfen.  Eine Möglichkeit, wie wir sicherstellen können, dass wir nicht an der Vorstellung eines Selbst hängen, die wir geschaffen haben, besteht darin, unser eigenes Unglück und unsere eigene Schande herbeizuführen, indem wir den Tadel anderer Menschen auf uns ziehen und ihrer Verachtung ohne Abwehrhaltung oder Bosheit standhalten.

In meinem eigenen Leben hatte ich das Glück, den Weg des Tadels durch meinen Vater zu erfahren, der alles tat, was er konnte, um Tadel auf sich zu ziehen, insbesondere die Schuldzuweisungen derjenigen, die behaupteten, seine Schülerinnen und Schüler zu sein.

Sich selbst die Schuld zuzuschreiben ist eine Möglichkeit, die Bindung an unsere eigene Identität zu lockern. Das ist Welten entfernt davon, anderen Dingen oder Menschen die Schuld für unser Unglück zu geben, die nur dazu dient, den Griff zu festigen, in dem uns unser Ego hat. 

Wie Hafiz sagt:

Wir sind treu auf dem Weg des Tadels und glücklich,
          Denn in unserer Religion ist es Unglaube, beleidigt zu sein.
< Previous DiscourseNext Discourse >