Die Erfahrung von Schönheit

Dr. Alireza Nurbakhsh

June 20, 2024

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Vor der stillen Meditation möchte ich ein paar Worte über die Erfahrung von Schönheit im Sufismus sagen.

Traditionell wird der Sufismus als Weg der Liebe charakterisiert, und auf diesem Weg ist die Erfahrung der Liebe sehr stark mit der Erfahrung der Schönheit verwoben. Die Schönheit sucht die Liebe, und wenn sie die richtige Person findet, schlägt sie wie ein Blitz ein und schafft Liebe.

Es gibt eine schöne Geschichte über Ruzbehan, einen persischen Sufi aus der Stadt Shiraz im 11. Jahrhundert, die genau diese Verbindung zwischen Schönheit und Liebe verdeutlicht.

Ruzbehan war einmal eingeladen, in Shiraz eine Predigt zu halten. Während seiner Predigt erzählte er, dass er auf dem Weg zur Moschee über den Marktplatz ging und eine Frau bemerkte, die zu ihrer Tochter sagte: "Meine Liebe, du musst dein Gesicht bedecken und darfst deine Schönheit niemandem zeigen, denn durch deine Schönheit und Anmut könnte jemand in Versuchung geraten." Als Ruzbehan dies hörte, wandte er sich an die Mutter und sagte: "Obwohl du ihr verbietest, ihr Gesicht zu zeigen, wird sie nicht auf deine Worte hören und deinen Rat annehmen, denn sie ist schön, und Schönheit hat keine Ruhe, bis sie Liebe findet."

Im Sufismus hat die Erfahrung von Schönheit sowohl objektive als auch subjektive Anteile. Der objektive Anteil ist, dass die Erfahrung von Schönheit inspiriert werden kann durch eine Person, eine freundliche oder selbstlose Handlung oder sogar ein Objekt wie ein Gedicht oder ein Ereignis wie ein Musikstück. Diese Dinge sind objektiv in dem Sinne, dass sie existieren oder auftreten, unabhängig davon, ob jemand sie wahrnimmt oder nicht. Der subjektive Anteil der Erfahrung von Schönheit hängt von der persönlichen Wahrnehmung und Herangehensweise ab; man muss sich in der richtigen Geisteshaltung befinden, um solche Dinge als schön zu erleben. Das bedeutet, dass man nicht offen für die Erfahrung von Schönheit ist, wenn man gedankenverloren oder aufgewühlt und im Allgemeinen nicht aufnahmefähig ist.

Nun gibt es innerhalb des subjektiven Teils der Erfahrung von Schönheit wiederum zwei Komponenten. Die erste Komponente ist, dass man im gegenwärtigen Moment leben muss, um Schönheit zu erfahren. Das bedeutet, dass man achtsam sein muss, was in seiner Umgebung vor sich geht. Wenn man geistig nicht präsent ist, wird man die "schöne" Handlung nicht sehen. So einfach ist das.

Die zweite Komponente des subjektiven Aspekts der Erfahrung von Schönheit besteht darin, dass man sich auch in der richtigen spirituellen Verfassung befinden muss. Es ist hilfreich, wenn man den Einfluss einer Kultur oder einer Umgebung erlebt hat, die spirituelle Werte fördern. Man muss spirituell vorbereitet sein, um spirituelle Handlungen als schön zu empfinden. Das Beobachten von Handlungen wie Güte und Mitgefühl sollte in uns automatisch die Erfahrung von Schönheit hervorrufen. Wenn das Umfeld, in dem wir aufwachsen oder leben, Handlungen wie Zurückhaltung oder Selbstaufopferung als Zeichen von Schwäche - oder schlimmer noch, von Dummheit - ansieht und ihre Gegensätze wie Egoismus und Selbstbezogenheit aktiv fördert, kann es eine Herausforderung sein, die richtige Geisteshaltung einzunehmen und bereit zu sein, eine Handlung wie beispielsweise Freundlichkeit oder Großzügigkeit als schön zu betrachten.

Tatsächlich bereiten sich Menschen, die einen spirituellen Weg und in diesem Kontext den Weg des Sufismus beschreiten, darauf vor, die richtige Geisteshaltung einzunehmen, um Schönheit und letztlich Liebe zu erfahren. Das bedeutet: manchmal müssen wir gegen die sozialen Normen der Gesellschaft, in der wir leben, verstoßen, um in der richtigen Geisteshaltung zu sein, um spirituelle Schönheit zu erfahren.

Zweimal pro Woche hierher zu kommen und an den Meditationssitzungen teilzunehmen, ist eine Art, sich darauf vorzubereiten, im richtigen Geisteszustand zu sein, um Schönheit und letztendlich Liebe zu erfahren.

Eine weitere Möglichkeit, wie Schönheit zu Liebe führen kann, besteht in der Erfahrung der körperlichen Schönheit einer Person oder der körperlichen Anziehung zwischen zwei Menschen. Die interessante Frage, die sich hier stellt, ist die folgende: Kann die Liebe zwischen zwei Menschen zu einer spirituellen oder göttlichen Liebe werden, anstatt nur im physischen Bereich zu bleiben? Mit spiritueller oder göttlicher Liebe meine ich eine Liebe, die umfassender ist als die Liebe zu einer Person oder einem Verwandten. Eine solche Liebe sollte alle anderen Wesen in der Welt einschließen.

Es scheint, dass wir nicht in der richtigen Geisteshaltung sein müssen, um die körperliche Schönheit eines anderen Menschen zu erleben. Der Prozess scheint automatisch abzulaufen und sich der eigenen Kontrolle zu entziehen, möglicherweise weil hier unsere Biologie am Werk ist und wir nicht viel Einfluss darauf haben, wen wir attraktiv und schön finden. Aber um über körperliche Schönheit und körperliche Liebe hinauszugehen und die Erfahrung der göttlichen Liebe zu machen, müssen wir in der richtigen Geisteshaltung sein. Wir müssen bereits auf der Suche nach spiritueller Wahrheit oder göttlicher Liebe sein, wenn wir uns in einen Menschen verlieben. Wenn wir kein spirituelles Bezugssystem haben oder bereits nach dem Göttlichen suchen, wird die Erfahrung von Schönheit und Liebe auf der physischen oder persönlichen Ebene bleiben.

Vielleicht kann eine andere Geschichte über Ruzbehan diesen Punkt veranschaulichen:

Während seiner Pilgerreise nach Mekka wurde Ruzbehan von Liebe zu einer Sängerin heimgesucht. Er verliebte sich ekstatisch in sie und weinte in seinem Zustand der Ekstase viel vor Gott. Er schritt auf den Dachterrassen umher und flehte Gott an, ihm in seinem Kummer zu helfen, da er erkannte, dass seine Beziehung zu Gott auf die Sängerin übergegangen war. Natürlich wusste niemand davon, und er machte sich Sorgen, dass die Leute denken könnten, seine Ekstase sei für Gott. So ging er schließlich zu den Sufis, zog seinen Mantel aus und warf ihn vor ihnen hin. Er erzählte den Leuten seine Geschichte und sagte: "Ich will nicht über meinen spirituellen Zustand lügen, Gott hat mich stattdessen die Sängerin lieben lassen." Daraufhin widmete er sich der Frau wie ein Diener, und schließlich konnte er sie mit Hilfe der Frau und der Gnade Gottes weiterhin lieben, während er gleichzeitig über die Liebe zu ihr hinausging und zur göttlichen Liebe gelangte – einer allumfassenden, bedingungslosen Liebe zu allem.

Ruzbehan konnte den Übergang von der zeitlichen Liebe zur göttlichen Liebe vollziehen, weil er bereits auf der Suche nach der göttlichen Liebe gewesen war. Es ist schwer vorstellbar, dass er zur Erfahrung der göttlichen Liebe erhoben worden wäre, wenn er nicht bereits in einer Umgebung mit tiefen spirituellen Werten gelebt hätte, Werten, die ihn tief nach dem Göttlichen suchen ließen.

In unserer heutigen Gesellschaft liegt der Schwerpunkt auf Konsum, Materialismus und Stammesdenken, während spirituelle Werte als Ziel des Lebens und Grund für das Leben nur wenig Bedeutung erhalten. Daher ist es sehr selten, dass die Erfahrung von körperlicher Schönheit und Liebe zu spiritueller Liebe führt, da nur sehr wenige Menschen, die sich ineinander verlieben, bereits auf der Suche nach einer spirituellen Wahrheit sind.

Es ist passend, diesen Vortrag mit zwei Zeilen von Hafez zu beenden, dessen Dichtung sich hauptsächlich auf seine Erfahrung von Schönheit und Liebe bezieht.

در ازل پرتو حسنت ز تجلی دم زد
عشق پیدا شد و آتش به همه عالم زد
حافظ آن روز طربنامه ی عشق تو نوشت
که قلم بر سر اسباب دل خرّم زد
In der Vor-Ewigkeit manifestierte sich der Strahl deiner Schönheit,
          Und die Liebe erschien und entzündete die ganze Welt.
An dem Tag, an dem Hafez das Buch der Freude deiner Liebe schrieb,
          gab er die Ruhe und den Frieden auf, die er einst hatte.
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