
Nimatullahi Sufi-Orden
Sufismus ist eine spirituelle Reise zur Wahrheit durch Liebe, Hingabe und Dienst, basierend auf der Einheit aller Wesen.
Folge uns auf Social
Copyright © 2025 Nimatullahi Sufi Order. All rights reserved.

Bevor wir mit der stillen Meditation beginnen, möchte ich ein paar Worte über den Begriff des Kampfes mit dem Nafs beziehungsweise des Kampfes gegen das Ego sagen, was ein zentrales Konzept im Sufismus ist. Ich werde über 3 grundlegende Fragen sprechen: Erstens, was bedeutet es, gegen das Ego zu kämpfen? Zweitens, warum ist es wichtig oder bedeutsam, gegen das Ego zu kämpfen? Und drittens, wie ist es möglich, gegen das Ego zu kämpfen?
Was wir über den Begriff Ego wissen, ist, dass er im Wesentlichen aus zwei grundlegenden Instinkten bei Tieren und Menschen hervorgegangen ist. Der erste grundlegende Instinkt ist der Selbsterhaltungstrieb: d.h. wenn unser Leben bedroht ist, wird der Instinkt von fight or flight (Kampf oder Flucht) aktiviert. Unsere Selbsterhaltung ist also fundamental. Der andere grundlegende Instinkt, den wir mit allen Tieren teilen, ist der Drang zur Fortpflanzung. Die Fortpflanzung oder die Weitergabe unserer Gene ist für das Überleben der Art notwendig. Das sind also zwei grundlegende Instinkte - Selbsterhaltung und Fortpflanzung zum Fortbestand der Art. Und ich denke, dass der Begriff des Egos zum Teil daher rührt, dass wir versuchen, erstens uns selbst und zweitens unsere Gene zu erhalten oder weiterzugeben, die in erster Linie durch unsere Verwandten umgesetzt werden können.
Wenn wir also von Selbstlosigkeit sprechen oder sagen, dass jemand im Sufismus selbstlos ist, bedeutet das nicht, dass man gegen diese beiden Instinkte verstoßen sollte oder dass man sich selbst verletzen oder sich von anderen Menschen missbrauchen lassen sollte oder sich nicht um sich selbst oder seine Verwandten oder Nachkommen kümmern sollte. Selbstlosigkeit bedeutet nicht, dass man in diesen Dingen selbstgefällig sein oder die Selbsterhaltung oder Fortpflanzung nicht ernst nehmen sollte.
Das menschliche Ego hat noch andere Ursprünge im Tierreich, und dabei kommen mir zwei Hauptmerkmale des Egos in den Sinn: Das eine ist die Idee des Besitzes, des Besitzes von Dingen. Im Tierreich können wir sehen, dass der Besitz eines Territoriums oder der Schutz des eigenen Territoriums ein sehr grundlegender Instinkt ist. Der andere ist die Dominanz, das Dominieren über andere Tiere. Im Tierreich ist der Gedanke der Dominanz über andere hinsichtlich Nahrung oder Paarung von großer Bedeutung. Und wenn man die evolutionäre Skala der Säugetiere aufsteigt, sehen wir, dass Besitz und Dominanz für einige Affenarten grundlegende Verhaltensweisen sind. Wichtig ist auch, dass Gewalt und Aggression in der Regel mit diesen Verhaltensweisen verbunden sind.
Der Begriff des Egos wird auf dieser evolutionären Skala also immer komplexer und geht von den grundlegenden Ideen der Selbsterhaltung und Fortpflanzung zu Besitz und Dominanz über... wenn man beim Menschen angelangt, kommt dann noch das Merkmal der Intelligenz hinzu. Während Tiere also nur begrenzte Möglichkeiten haben, ihren Drang nach Besitz und Herrschaft auszuleben, hat der Mensch mit seinem fortgeschrittenen Intellekt die Fähigkeit, diese Konzepte mit einem zerstörerischen Maß an Gewalt und Aggression zum Äußersten zu treiben. Während bei einem Affen ein einzelner Akt der Aggression gegenüber einem anderen Affen zu beobachten ist, kann ein Mensch einen Akt der Aggression gegenüber vielen Menschen gleichzeitig ausüben.
Die Intelligenz hat den Menschen in die Lage versetzt, nach unbegrenztem Besitz und unbegrenzter Dominanz über andere zu streben. Mit der menschlichen Intelligenz haben wir versucht, bezüglich beider Verlangen zu erreichen, uneingeschränkt und grenzenlos zu sein.
Da wir also über das Ego beziehungsweise Nafs sprechen, was bedeutet das im Sufismus? Das Ego ist die Idee des unbegrenzten Besitzes von allem und der unbegrenzten Dominanz über andere Menschen. Das kann bedeuten, dass wir uns für besser halten als andere, dass wir mehr Dinge besitzen als andere und dass wir versuchen, andere zu beherrschen oder zu dominieren, manchmal durch Klugheit und Überredungskunst und manchmal durch Gewalt. Manchmal sagt uns das Ego, dass wir andere, die weniger Glück und Wohlstand haben, völlig ignorieren sollen. Das ist die allgemeine Vorstellung davon, was das Konzept des Egos bedeutet. Ich denke, wenn Sufis davon sprechen, mit dem Ego zu kämpfen, dann meinen sie mit dem Ego den Wunsch, zu besitzen und – in dieser Gesellschaft: zu konsumieren – und zwar ohne Grenzen. Außerdem meinen sie damit, Menschen und Dinge so weit wie möglich zu beherrschen oder sich auf das eigene Wohlergehen zu konzentrieren, bis hin zur völligen Vernachlässigung anderer.
Die Frage ist nun: warum ist es wichtig, gegen das Ego zu kämpfen? Nun, ich denke, aus der Erörterung, die ich skizziert habe, wird sehr deutlich, warum es wichtig ist. Denn wenn man diesen Wunsch hat, um jeden Preis zu besitzen und auch um jeden Preis zu dominieren, schadet das anderen Menschen und es schadet der Umwelt. Dieses Verlangen, zu besitzen und zu dominieren, verursacht Krieg und Konflikte zwischen den Menschen, und da wir begrenzte Ressourcen haben, gibt es überall auf der Welt Konflikte. Und es verbreitet auch die Idee der Dominanz des Menschen über die Tierwelt, über die Umwelt und die Erde.
Natürlich ist es sehr einfach, aus all diesen Aspekten einen Zusammenhang herzustellen und zu zeigen, dass der Zustand der Umwelt und die globale Erwärmung zum Teil eine direkte Folge des egoistischen Wunsches der Menschheit sind, alles zu beherrschen und alles zu besitzen. Deshalb ist es wichtig, dieses Ego zu zügeln, in den Griff zu kriegen – um sicherzustellen, dass es nicht so viel Schaden für Menschen und Umwelt verursacht.
Die letzte Frage, der letzte Teil dieser Rede lautet also: Wie ist es möglich, das Ego zu zähmen oder gegen das Nafs beziehungsweise Ego zu kämpfen? Nun, die erste Methode, die seit der Antike verordnet wurde, ist die Idee der Achtsamkeit. Das bedeutet, dass man versucht, auf den Inhalt seines Bewusstseins und seinen Zustand zu achten beziehungsweise achtsam zu sein. Im Grunde bedeutet das, zu beobachten, was einen zu diesen Neigungen oder Wünschen treibt, und zu versuchen, das zu stoppen, und gegen diese egoistischen Wünsche zu kämpfen. Aber es gibt zwei Probleme mit der Achtsamkeit: Das eine ist, dass man sein Ego benutzt, um das Ego zu überwachen, und das Ego ist eine trügerische Sache. Wenn man versucht, das Ego zu benutzen, um sich selbst zu überwachen, kann es einen austricksen, damit man denkt, dass man überwacht, aber in Wirklichkeit dient das dem Zweck des Egos. Ein Beispiel dafür ist, gütig anderen Menschen gegenüber zu sein. Gütig zu sein ist etwas, das nicht egoistisch ist - natürlich ist es das nicht. Aber manchmal tut man, ohne es zu wissen, eine gute Tat, weil man unbewusst denkt, dass diese Tat einem selbst einen Nutzen bringen würde. Wenn man also einen Hintergedanken hat, ist das nicht wirklich Güte gegenüber anderen Menschen. Deshalb braucht man einen Wegweiser oder eine Wegweiserin, eine Person, die einem zeigt, ob das, was man denkt und tut, vom Ego kommt oder ob es anderen nützt, und ob es wirklich ein Kampf mit dem Nafs ist oder nicht. Man kann das Wirken des Egos nicht selbst überwachen. Man braucht einen Lehrer, einen Wegweiser, der einem hilft. Und so hat sich im Sufismus der Begriff des spirituellen Wegweisers oder Meisters entwickelt: jemand, der den Weg des Sufismus gegangen ist und anderen in diesem Kampf mit dem Ego helfen und beistehen kann.
Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus, kann ich sagen: wenn du etwas getan hast, das nicht auf dem Ego basiert oder durch das Ego verursacht oder angetrieben wurde, solltest du wissen, dass ein echter Akt der Liebe gegenüber anderen Menschen immer ein Kampf gegen das Ego oder das Nafs ist.
