
Nimatullahi Sufi-Orden
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Vor der stillen Meditation heute Abend möchte ich ein paar Worte sagen über die Erfahrung des Nichtseins im Sufismus (fana oder nisti) bzw. wie sie im Buddhismus bezeichnet ist, die Erfahrung des Nicht-Selbst.
Die erste Frage, die einem in den Sinn kommt, wenn man über die Erfahrung des Nichtseins nachdenkt, ist: Warum sollte jemand das Nichtsein erfahren wollen oder nichts sein wollen? Ich denke, manche Menschen kommen in ihrem Leben an einen Punkt, wo sie erkennen, dass alle ihre Probleme von ihrem Ego und dessen Wünschen und Bedürfnissen stammen, und deshalb suchen sie nach einem Weg, sich ohne ihr Ego in der Welt zu bewegen. Der Weg des Nichtseins ist nicht für jede und jeden etwas. Ich denke, die meisten Menschen sind mit sich und ihrem Ego zufrieden und würden nicht dagegen vorgehen wollen, geschweige denn es zerstören wollen. Für manche Menschen wird jedoch glasklar, dass ihr Ego oder Selbst die Quelle aller Probleme in der Welt ist - von den persönlichen Konflikten in ihrem Alltag bis hin zu Kriegen zwischen Nationen.
Eine sehr wichtige Beobachtung, die sowohl von den Sufis und den Buddhisten als auch in jüngerer Vergangenheit von Evolutionsbiologinnen und Kognitionspsychologen gemacht wurde, ist, dass zumindest bestimmte Aspekte dessen, was wir “Ich”, “Ego” oder “Selbst” nennen, eine Illusion sind. Es gibt viele Arten, in denen sich das Ich oder das Selbst präsentiert, aber ich denke, es wäre hilfreich, zumindest drei Aspekte des Selbst zu nennen, die uns als wirklich erscheinen, es aber nicht sind.
Die erste Funktion des Egos, welche die meisten Menschen gut kennen, ist die eines Handlungsträgers, der unsere Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Emotionen und letztlich unser Verhalten steuert, angetrieben von dem Bedürfnis, die Oberhand zu haben. Es scheint wie ein Pilot in einem Raumschiff zu sein, der unsere innere Welt kontrolliert, lenkt und uns sagt, wann wir Genuss suchen und wann wir unsere Gelüste kontrollieren sollen, wann wir gierig sein sollen und wann wir unsere Gier kontrollieren sollen. Die meisten Menschen bemerken dieses Ego nicht einmal und fahren stattdessen einfach in dem Raumschiff mit, wohin auch immer der Pilot es hinsteuert.
Die zweite Funktion, die wir mit dem Selbst verbinden, ist, dass es dasjenige ist, das unser Innenleben und unseren Geist besser kennt als jeder andere. Aus der kognitiven Psychologie und der Evolutionspsychologie haben wir jedoch gelernt, dass die meisten Funktionen unseres Geistes unbewusst sind und wir keinen Zugang dazu haben.
Man nimmt an, dass der dritte Aspekt des Selbst derjenige ist, der uns einredet, dass wir fähig und klug sind, und zwar so sehr, dass er uns manchmal ein überzogenes, aufgeblasenes Bild von uns selbst vermittelt. Er erfindet Geschichten über uns, um andere zu beeindrucken oder um zu zeigen, dass wir im Wesentlichen Recht haben und andere im Unrecht sind. Das Selbst will sich aufspielen und anderen sagen, wie wichtig es ist.
Es gibt zahlreiche Gründe und Beweise, die sowohl durch Selbstbeobachtung als auch durch Experimente in der kognitiven Psychologie und Neurophysiologie gefunden wurden, die die wahre Existenz aller drei oben genannten Erscheinungsformen des Ichs in Frage stellen. An dieser Stelle sollen diese Gründe und Experimente nicht weiter erörtert werden. Es genügt zu sagen, dass die Erkenntnis, dass das Selbst eine Illusion ist, bedeutet, dass alle drei Annahmen, die wir über die Existenz des Selbsts machen, falsch sind. Letztlich ist es die Erfahrung des Nicht-Selbst oder des Nichtseins, die uns erkennen lässt, dass das Selbst oder unser Ego ein mentales Konstrukt ist, das sich in unserer Evolutionsgeschichte zur Sicherung unseres Überlebens entwickelt hat. Daher halte ich es für hilfreich, zu erklären, was es bedeutet, die Welt ohne das Selbst oder das Ego zu erleben.
Es gibt eine Wahrnehmung des Selbst oder des “Ichs”, die wir haben und die nützlich ist, um das Selbst zu verstehen; das ist das “Ich” als Beobachter unserer Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Emotionen, das über die Zeit hinweg zu bestehen scheint. Eine der interessanten Tatsachen, die wir mit anderen Tieren gemeinsam haben, ist, dass wir in der Lage sind, Gedanken und Gefühle zu erleben, ohne sie zu bewerten oder sogar ohne sie uns selbst zuzuschreiben. Auch wenn es schwierig sein mag und Übung erfordert, sind wir letztendlich in der Lage, unsere Wahrnehmungen und Gefühle einfach zu beobachten, ohne an ihnen teilzunehmen, so wie wir einen Film sehen können, ohne in die Handlung verwickelt zu werden.
Sobald wir in der Lage sind, das Selbst als bewussten Beobachter unserer inneren Welt zu benutzen, werden wir einen distanzierten Blick auf unsere innere Welt werfen. Wir werden nicht weiter denken, dass wir die Kontrolle haben oder die intimen Abläufe in unserem Geist kennen oder ein aufgeblasenes Bild von uns selbst haben - wir werden nicht einmal spüren, dass wir diese Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken besitzen. Wir beobachten, dass es Gier und Verlangen nach Vergnügen gibt, aber wir schreiben diese Gefühle nicht uns selbst zu oder haben das Gefühl, dass es unser wirkliches, konkretes Selbst ist, das gierig ist oder Vergnügen sucht. Dies ist der Beginn der Erfahrung des Nichtseins. Das “Ich” oder “das Selbst” fällt weg, wenn wir uns nicht mit den Erfahrungen und Gefühlen identifizieren, die wir machen, wenn wir nicht annehmen, dass sie zu uns gehören, oder an ihren Geschichten teilhaben. In Wahrheit gibt es nur Erfahrungen unserer inneren Welt, die wir in der Rolle eines Beobachters erleben.
Bisher habe ich über die Erfahrung des Nichtseins gesprochen, als ob sie allein durch eigene Anstrengungen und Selbstbestimmung erreicht werden kann. Zumindest einige Schulen des Buddhismus glauben, dass dies durch die eigenen Bemühungen und die eigene Praxis erreicht werden kann. Aber im Sufismus ist noch eine weitere Zutat erforderlich. Und diese zusätzliche Zutat ist die Liebe. Liebe in jeder Form macht die Erfahrung des Nichtseins möglich. Die Erfahrung des Nichtseins durch die Liebe im Sufismus geht insofern weiter, als dass sogar das Selbst als losgelöster Beobachter unserer inneren Welt vollständig wegfällt. Der Liebende wird eins mit der Geliebten.
Es gibt eine berühmte Geschichte in Rumis Mathnawi, die dasselbe zum Ausdruck bringt:
Ein Liebender klopfte an die Tür seiner Geliebten,
Seine Geliebte antwortete: “Wer bist du, mein Freund?”
Der Liebende antwortete: “Ich bin es”.
“Dies ist keine gute Zeit, um das Haus zu betreten. Keine rohe Person kann hier eintreten”, erwiderte die Geliebte.
Nur das Feuer der Trennung kann den rohen Menschen garkochen.
Und ihn von Dualität und Selbstbetrachtung befreien.
Der arme Liebende ging ein Jahr lang auf Reisen,
und wurde verbrannt im Feuer der Trennung von seiner Geliebten.
Als er gekocht und verbrannt war,
kehrte der Liebende zur Tür der Geliebten zurück.
Er klopfte voll Angst und zitternd an die Tür,
und hütete sich, etwas Ungehöriges zu sagen.
Seine Geliebte fragte: “Wer ist an der Tür?”,
Der Liebende antwortete: “Du bist es, der vor der Tür steht.”
“Nun, da du ich bist, komm herein”, antwortete die Geliebte,
“Denn dieses Haus kann nicht zwei 'Ichs' enthalten.”
Alle Muster, die die Illusion des Selbst hervorrufen, verschwinden durch Liebe. Die Liebe lässt uns erkennen, dass wir keine Kontrolle über unsere Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen haben, sondern dass der Geliebte die Kontrolle hat. Wir nehmen uns selbst nicht mehr als unfehlbar in Bezug auf unsere innere Welt wahr. Nur unser Geliebter ist unfehlbar. Wir hören auf, eine aufgeblasene falsche Vorstellung von uns selbst zu haben, und die einzigen Geschichten, die wir erzählen können, handeln von der Liebe und dem Geliebten.
Wie Rumi sagt,
Der Geliebte ist alles und der Liebende ist ein Schleier,
Der Geliebte ist lebendig und der Liebende ist tot.
Allerdings gibt es hier einen Haken, und zwar die Tatsache, dass Liebe kein selbst auslösbarer Zustand ist. Wie viele sagten, brauchen wir die Gnade Gottes, um in einen Zustand von Liebe zu gelangen. Bis wir jedoch vom Feuer der Liebe entflammt werden, müssen wir uns darin üben, uns von unserer inneren Welt zu lösen und unsere Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle zu erleben, ohne an ihnen teilzuhaben.
